Der Mensch ist ein sehr interessantes Wesen - so viele Jahrtausende sind vergangen und am Verhaltensmuster ändert sich kaum etwas.
Zuerst schafft man sich Idole, vor denen man kniet und die man anbetet, dann stürzt man diese Idole von ihren Podesten, spuckt sie an, foltert, kreuzigt, köpft und dann erklärt man sie zu Märtyrern, Heiligen und betet sie wieder an.
Eine sehr ähnliche Geschichte passierte mit den Opfern der Großen Französischen Revolution, konkret mit der Königin Marie-Antoinette.
Und genau zu der Zeit, als in Moskau zum wiederholten Mal ""Das Feuer von Paris" in der Interpretation von Herrn Ratmansky, der es der Welt zeigen wollte, dass es nicht gut ist, Revolutionen zu machen, entflammte, zeigte man der Welt in Wien das neue Ballett "Marie-Antoinette".
Der Choreograph Patrick de Bana spielte nicht die Rolle des Aufklärers der Menschheit, er nahm die Geschichte in ihrer Gegebenheit hin. Ihn interessierten die psychologischen Aspekte des menschlichen Benehmens in den Grenzsituationen, die Rolle des Schicksals, das Fatale in dem, was einem Menschen im Leben vorbestimmt ist.
Offensichtlich beschäftigt sich der Chorepgraph ständig mit diesen Fragen, da es schon seine dritte Hinwendung zu diesem Thema ist: zuerst schuf er ein Pas-De-Deux für Agnes Letestu und sich selbst, dann ein Ballett für das Wiener Ensemble im Jahre 2010 und jetzt die zweite Version über das Leben und Tod der unglücklichen österreichischen Intantin und französischen Königin.
Diese zweite Version ist keine Wiederholung der ersten: ordentlich überarbeitet wurde sowohl die Musik als auch die Choreographie des Balletts.
Wie der Choreograph erzählte, hatte er sich in den letzten Jahren stark verändert, was durch seine vielen Reisen sowie die Arbeit mit solchen hervorragenden Künstlern wie Svetlana Zakharova und Ivan Vasiliev zustande gekommen ist. Sein heutiges Credo heißt "Wenig ist besser", deshalb ist die heutige Ballettversion sehr minimalistisch ausgefallen.
Außerdem erschien mittlerweile im Ensemble so eine herausragende Tänzerin wie Rebecca Horner, für die de Bana neu die Rolle der Kaiserin Maria-Theresias kreierte. Marie-Antoinette und Madamme Elisabeth ihrerseits wurden auf die Spitzen gestellt. Das ist das erste Mal, das der Choreograph mit den Spitzenschuhen arbeitet. Er hatte viel Spaß dabei und plant, diese Arbeit fortzusetzen. In dem konkreten Fall dienten die Spitzenschuhe dazu, die königlichen Personen über die anderen zu stellen, was natürlich vollkommen berechtigt ist.
Die Bühnenbilder sind auch ganz puristisch, schaffen aber perfekt die Atmosphäre der Plätze, wo die Handlung stattfindet: das Domizil der Kaiserin in Wien mit der symbolischen Treppe, Versailles mit den glänzenden Kristallvorhängen .oder das Gefängnis mit dem symbolischen Gitter aus den von der Decke runterhängenden Stangen.
Es wurde eine sehr interessante musikalische Lösung gefunden: die historischen Momente werden von der Musik der historischen Epoche begleitet. Mozart, Telemann, Vivaldi, Rameau (ich war etwas verwundert, dass keine Musik von Christoph Willibald (Ritter von) Gluck gebrauchte wurde - immerhin war er Marie-Antoinettes Erzieher) und das Überzeitlich-Philosophische: das Schicksal, der Schatten der Marie-Antoinette, der in den eisernen Umarmungen des Schicksals schmachtet, die Vorahnungen der Maria-Theresia - alles, sozusagen Metaphysische wird zur modernen Musik des in Wien lebenden Komponisten Carlos Pino-Quintana getanzt (zu seiner Musik tanzt auch Svetlana Zakharova ihre Nummer von Patrick de Bana bei der kommenden Gala).
Für die allgemeine Vorstellung gibt es einige Aufnahmen. Für die Qualität bitte ich mich zu entschuldigen, da ich mich immer noch auf der Suche nach einer Filmtechnologie befinde, die die Psyche des Operators schont.
Patrick de Bana ging durch die ganze Schule der zeitgenössischen Choreographie - angefangen von der Hamburger Ballettschule Neumeiers durch die Arbeit bei Duato und Bejart. Offensichtlich durch diese Symbiose ist es ihm gelungen, seine eigene, ganz persönliche choreographische Sprache zu entwickeln, dessen Charakteristikum ein Duetttanz ist, wo die Tänzer nicht einander wiederholen, stützen, wiederspiegeln oder was auch immer, sondern verschmelzen ineinander. Ihre Bewegungen werden zu einer gemeinsamen fließenden Einheit. So tanzt Maria-Theresia mit ihren Partnern, so tanz das Schicksal mit dem Schatten der Marie-Antoinette.
Die am Anfang des zweiten Aktes passierte Revolution ereignete sich zur Musik von Rameaus "Les Indes galantes" (die mag auch Maxim Petrov in seinem "Divertimento des Königs").
Das in schwarz gekleidete cord- de- ballet präsentierte einen machtvollen, angreifenden aber auch französisch eleganten Tanz, der das königliche Paar wegfegte. Unter den Tänzerinnen fielen mir ganz unerwartet zwei unverwechselbar "Vaganova" Arme-Hände auf: singend-fliegende, wunderschöne, einmalige. Bei der näheren Betrachtung stellte ich fest, dass sie Oxana Kiyanenko gehörten: Vaganova Absolventin des Jahres 2006. Und seit dem in den cords! Was für eine Schande. Wie groß war aber meine Freude, als es sich beim Studium der anderen Besetzungen herausstellte, dass Frau Kiyanenko Madamme Elisabeth mit Mariya Yakovleva als Marie-Antuanette tanzt. Danke, Herr de Bana!
Marie-Antoinette von Olga Esina war filigran wie erwartet und  tragisch-gebrochen. Erinnerte ein bisschen an sich selbst als Rote Giselle, was verständlich ist.
Ludowig XVI. von Jacob Feyferlik, der am nächsten Tag den Förderpreis des Ballettclubs erhielt, war unbeholfen, naiv, ein wenig lächerlich und retardiert, aber sehr rührend  - so ein französischer Peter der Dritte.
Ein grandioses Schicksal tanzte Andrey Kaydanovsky, der die Sprache des contempory unvergleichlich beherrscht, und seine Lebensgefährtin Rebecca Horner stellte eine genauso hervorragende Maria-Theresia vor. Erschütternd tragisch war ihr Duette, wo die Kaiserin das Schicksal bittet, ihre Tochter zu verschonen. Das Schicksal kann ihr nur anbieten, den vorgezeichneten Weg zu gehen.
Rebecca Horner haben wir im letzten Jahr in zwei großen Rollen gesehen: in "Johsephs Legende" von Neumeier und jetzt bei Patrick de Bana. Ich möchte dem letzteren ehrlich danken, dass er das geschafft hat, das einmalige Talent der Tänzerin so zur Geltung zu bringen. In Neumeiers Choreographie wurde ich das Gefühlt nicht los, dass der choreographische Text für diese Ausnahmetänzerin zu arm ist, dass zum Catharsis etwas fehlt.
Insgesamt enthielt dieses Ballett viele Höhepunkte. Einer von denen war das Abschiedsgebet der Madamme Elisabeth. Es wurde von Ketevan Papava mit solch durchdringenden Emotion dargeboten, dass ich es nur mit dem Todesgebet von Jean D'Arc gespielt von Inna Churikova vergleichen kann. Der Choreograph hat es der Ballerina erlaubt, nicht nur den Körper, sondern auch die Stimme in dieses Gebet einzubringen. Der Effekt war umwerfend: ungespielte Todesangst, die Bitte an Gott, Kraft zu geben, um diesen letzten Weg gehen zu können, Verzweiflung und Hinfügung ...
Genauso rührend war auch der Abschiedstanz von Ludwig und Marie-Antoinette: es schmerzt immer, anschauen zu müssen, wie Männer nicht imstande sind, ihre Frauen - Mütter, Ehefrauen, Töchter - zu beschützen. In diesem Sinne war das Duette über einem einzelnen Schicksal erhoben.
Der Abschluss der Vorstellung mündete in eine Metapher: Ludwig und Marie-Antoinette erstarren im glühend-roten Licht. Verbrennen im Feuer der Revolution.
Das erschüttert nicht weniger als das Köpfen bei Ratmansky - große Gefühle und Gedanken vertragen keinen Naturalismus.
P.S.: das ist einer der seltenen Fälle, wenn man das Stück noch einmal sehen möchte - das Duo Yakovleva-Kiyanenko verspricht auch viel interessantes.